Eine Nacht

Mittwoch, 13 Uhr.

Grau-weiße Zelte sammeln sich am Marktplatz in Dornbirn, dazu immer mehr Menschen mit FFP2-Masken und Sicherheitsabstand. Der 24-Stunden-Protest startet. Nässe, Schnee und Temperaturen unter null Grad werden dafür sorgen, dass es nicht allzu gemütlich wird. Das Thema ist gut sicht- und hörbar: „Jetzt schlägt’s 13“ oder „Wir haben Platz“ steht auf den Plakaten. Unterstützer*innen halten Reden und singen, es gibt Videobeiträge und Tanzeinlagen, das Publikum wird durch einen Flashmob warmgehalten. Und immer geht es um die Zustände in den Flüchtlingscamps Europas, um Aufforderungen zur Verbesserung der Lage und zur Einigung auf menschenwürdige Lösungen vor Ort. Es ist definitiv nichts Absurdes, was wir Jugendbotschafter*innen gemeinsam mit vielen Unterstützer*innen forderten und immer noch fordern. Die Einhaltung der grundlegendsten Rechte unserer Gesellschaft. Ebendiese, auf denen unsere heißgeliebten „Werte“ aufbauen. Die Rechte, die im Grundkern der Österreichischen Republik festgehalten sind. Menschenrechte und vor allem Kinderrechte.

 

Was das konkret bedeutet? Kinder müssen sicher aufwachsen können. Sie haben ein Recht auf ein friedliches Zuhause und die grundlegende Versorgung mit Medikamenten, Nahrung und Wasser. Darüber hinaus sollen Kinder auch Platz haben, um sich zu entwickeln. In den Flüchtlingscamps gibt es keinerlei Rückzugsorte, keine Privatsphäre, keine Freiheit. Es fehlen sichere Räume zum Spielen und Träumen. Der Zugang zu Bildung ist mäßig bis gar nicht vorhanden. Besonders schlimm ist der Mangel an psychologischer Unterstützung. Die meisten Flüchtlingskinder leiden unter chronischer Angst, Panikattacken, Depressionen und Selbstmordgedanken. Kinder leben täglich in Gefahr auf europäischem Boden. Die Lager sind die Orte ihrer Kindheit. Wie sollen sie lernen, ohne professionelle Hilfe und intensive Betreuung diese Traumata zu überwinden? Wie sollen sie jemals zu gesunden und glücklichen Erwachsenen heranwachsen?

 

Oft gibt es Menschen, die einwenden, dass es ja so vielen Kindern schlecht ginge und man nicht allen helfen könne. Aber was ist mit denjenigen, deren Schicksal in unserer Hand liegt? Wie sollen wir da etwa einfach zuschauen? Wie kann Österreich sich mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtekonvention zum Schutz der Kinderrechte verpflichten, und ebendiese Pflichten an den Brennpunkten der EU nicht beachten?

 

Wenn die Politik versagt, muss die Bevölkerung Druck machen. Diese eine Nacht sollte ein Zeichen der Solidarität sein, und gleichzeitig auch ein erneutes Wachrütteln der Gesellschaft, dass es so nicht weitergehen kann. Daran erinnern, dass das Grauen für die Menschen nicht aufhört, wenn sie Europas Grenzen erreichen. Denn in den Camps erwarten sie chronische Überfüllung, unzureichende Unterbringung und Versorgung, Schlamm und Ratten, lange Aufenthaltsdauern, Gewalt und Gefahren, fehlende Perspektiven, Hoffnungslosigkeit. Wie bei dieser langen Liste an Problemen noch gefragt wird, wieso wir uns dafür einsetzen, dass sich schnellstmöglichst etwas ändern muss, ist für mich unverständlich. Es stehen die Rechte derjenigen auf dem Spiel, die besonders schutzwürdig sind. Es braucht Veränderung. Schnelle, gemeinsame und zukunftsfähige Lösungen. Handlungen, die den Menschen ihre Würde zurückgeben. Taten, die nicht nur Hoffnung spenden, sondern vor allem Träume verwirklichen. Denn aus einmaligen Geldzahlungen, netten Gesten und leeren Worten kann sich kein Kind eine Zukunft bauen.

 

‚Wie war die Nacht?‘

Ich denke über diese Frage nach als ich schon längst wieder zuhause in der warmen Küche sitze, frisch aus der heißen Dusche, einen Tee vor mir auf dem Tisch.
Eine Nacht. In der Kälte, im Schnee, im Freien. Was ist dies im Vergleich zu den Verhältnissen, in denen Menschen und vor allem Kinder in den Flüchtlingscamps Europas leben müssen? Eine Nacht. Wie viele für die Geflüchteten? Ich denke an das, was mir durch den Kopf ging, als ich in meinem Schlafsack lag. Wie wäre es, hier zu übernachten, ohne zu wissen, wie lange noch? Auf nassen Decken, weil der Regen gestern schon wieder das Zelt geflutet hat? Nicht einschlafen zu können, weil ich mich um die Zukunft meines Kindes sorge, die jeden Tag etwas düsterer aussieht? Ich dachte an die zerplatzten Träume, die Ängste und Sorgen, spürte das Gefühl von Aussichtlosigkeit.
Mir war klar, dass wir im Protestcamp diese Nacht die Wahl hatten. Wird es zu kalt, haben wir einen Raum zum Aufwärmen. Geht es mir nicht gut, ist eine gute medizinische Versorgung vorhanden. Und morgen werde ich sicher im warmen Bett liegen, denn es ist ja nur einmal Übernachten.

 

Wenn mir diese Nacht eines nochmal bewusster gemacht hat, dann ist es das: es ist für uns unvorstellbar, was diese Kinder und Familien in den Flüchtlingscamps durchmachen. Wir können nicht nachfühlen, was sie durch ihre Flucht schon erlebt haben und wie sie jetzt leben müssen. Wir hatten die Wahl, diese Menschen haben sie nicht. Sie können nicht einfach in ihr warmes, sauberes Zuhause zurückkehren. Die „Zeltstadt“ ist ihre neue Heimat. Für eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder sogar mehrere. Die Lage ist menschenunwürdig, rechteverletzend und die Realität viel zu vieler Menschen.

 

Genau deshalb können wir nicht länger schweigend zusehen. Es muss sich etwas ändern, es muss mehr passieren, der Aufschrei muss größer werden. Dass diese eine Nacht nicht ausreicht und keine Wunder bewirkt, ist klar – aber sie war genug, um mir Hoffnung zu machen. Denn wir bekamen tatkräftige Unterstützung, viele Menschen zeigten Solidarität und Hilfsbereitschaft. Jede*r leistete einen Beitrag auf die eigene Art und Weise. Und wenn sich genug kreative Köpfe, willensstarke Persönlichkeiten und warme Herzen zusammentun, Aktionen starten und Politiker*innen fordern, dann könnten wir wirklich etwas bewegen.

 

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